Der Bundestag hat in seiner Nachtsitzung am 29.06.2017 in 2./3. Lesung den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern“ (Drs. 18/11278) angenommen.
Wenn der Bundesrat am 07.07.2017 zustimmt – und davon ist auszugehen – müssen freiheitsbeschränkende Maßnahmen (mechanische Fixierung, sedierende Medikamentengabe), die an Kindern und Jugendlichen in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung vorgenommen werden, zuvor richterlich genehmigt werden.
Hintergrund der Gesetzesänderung ist die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 07.08.2013 zur Genehmigungsbedürftigkeit nächtlicher Fixierung eines Kindes in offener Einrichtung (XII ZB 559/11). Der BGH hatte damals klargestellt, dass die Eltern für die Entscheidung über die Fixierung ihres minderjährigen autistischen Kindes in einer offenen Heimeinrichtung nach geltendem Recht keiner familiengerichtlichen Genehmigung bedürfen. Gleichzeitig führte der BGH aus, dass es dem Gesetzgeber überlassen sei, zu entscheiden, „ob die Anordnung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehalts das geeignete, erforderliche und verhältnismäßige Mittel ist, Kinder vor ungerechtfertigten unterbringungsähnlichen Maßnahmen zu schützen“. Bis dies aber geschehen sei, sei das Gericht an die geltende Gesetzgebung gebunden.
Der Gesetzgeber hat mit diesem verabschiedeten Gesetzentwurf nun entsprechend reagiert.
Das wird neu geregelt
Grundsätzlich bleibt es dabei, dass die Befugnis zur Entscheidung über den Einsatz freiheitsbeschränkender Maßnahmen und die Art und Weise ihrer Anwendung weiterhin den Eltern im Rahmen ihrer Personensorge zusteht (bzw. dem Vormund oder Pflege, falls die Eltern nicht die Personensorge haben).
Lehnen die Eltern eine Maßnahme ab, darf diese von der Einrichtung nicht durchgeführt werden, und das Familiengericht wird gar nicht mit einem Genehmigungsverfahren befasst.
Entscheiden sich allerdings die Eltern (bzw. der Vormund/Pfleger) für eine freiheitsbeschränkende Maßnahme für ein Kind/einen Jugendlichen, muss diese zusätzlich durch das Familiengericht genehmigt werden.
Was ist unter „Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung“ gemeint?
Unter diese Orte fallen:
- Krankenhäuser
- kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken
- Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
- Einrichtungen der Behindertenhilfe
- sonstige stationäre und ambulante Einrichtungen wie etwa Kindergärten und Kindertagesstätten, in denen Kinder und Jugendliche fern von der ständigen Kontrollmöglichkeit der Eltern betreut werden oder gar über einen längeren Zeitraum oder kurzfristig wohnen.
Welche Maßnahmen sind gemeint?
Es sind drei Schritte notwendig, um zu prüfen, ob eine freiheitsbeschränkende Maßnahme vorliegt, die richterlich genehmigt werden muss:
Zweck der Maßnahme prüfen:
Umfasst sind Maßnahmen, durch die die Freiheit entzogen werden soll. Das bedeutet, dass die Freiheitsentziehung Zweck der eingesetzten Mittel sein muss, die Maßnahme das Kind oder den Jugendlichen also gerade an der Fortbewegung hindern soll.
Dient die konkrete Maßnahme dagegen ausschließlich anderen Zwecken wie etwa therapeutischen oder medizinischen Zwecken unterliegt die Entscheidung der Eltern über ihren Einsatz nicht dem Vorbehalt der Genehmigung durch das Familiengericht.
Beispiele: Fixierung eines mehrfachbehinderten Kindes im Rollstuhl zur Aufrichtung des Körpers und zur Atmungserleichterung; Verabreichung von Medikamenten zu Heilzwecken, die als Nebenwirkung die Bewegungsfreiheit möglicherweise erheblich einschränken
Altersgerechtigkeit der Maßnahme prüfen:
Zudem muss die Maßnahme muss dem Kind/dem Jugendlichen in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entziehen. Durch diese Beschränkung sind Maßnahmen wie Laufställe oder Hochstühle für Kleinkinder zum Beispiel in Kindertagesstätten vom Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen.
Pädagogischen Konzepten, die freiheitsentziehende Maßnahmen bei „erziehungsschwierigen“ Jugendlichen als angemessenes und altersgerechtes Erziehungsmittel und als Reaktion auf vermeintliches Fehlverhalten erachten, wird auf diese Weise eine Absage erteilt. Erziehungsschwierigkeiten allein rechtfertigen es nicht, eine Maßnahme als altersgerecht einzustufen, die unter Kindern und Jugendlichen derselben Altersgruppe sonst nicht mehr angemessen wäre.
Dauer der Maßnahme prüfen:
Die Maßnahme, die die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Entschließungsfreiheit zur Fortbewegung des Kindes oder des Jugendlichen bewirken soll, muss auf einen längeren Zeitraum gerichtet sein oder die Freiheitsentziehung muss regelmäßig erfolgen.
Wie lange darf die Maßnahme genehmigt werden?
Die Gesetzesänderung verkürzt die Höchstdauer von freiheitsentziehenden Unterbringungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Minderjährigen einheitlich auf sechs Monate; die Möglichkeit einer Verlängerung dieser Frist wird vorgesehen.
Bei offensichtlich langer Sicherungsbedürftigkeit kann eine Höchstdauer bis zu einem Jahr bestimmt werden. Dies soll aber nur in Ausnahmefällen möglich sein, wenn ein offensichtliches Bedürfnis für eine Unterbringung bzw. freiheitsentziehende Maßnahme über sechs Monate hinaus besteht. Ein Ausnahmefall kann beispielsweise vorliegen, wenn es erforderlich ist, ein dauerhaft körperlich schwerstbehindertes Kind vor einer Selbstgefährdung durch Stürze aus einem Rollstuhl oder Bett zu sichern.
Ab wann gilt das neue Recht?
Grundsätzlich muss das Gesetz noch im Bundesrat behandelt werden; dies dürfte am 07.07.2017 der Fall sein (geschieht dies nicht, wird – wegen der Bundestagswahl – der Gesetzentwurf obsolet und ein neues Gesetzgebungsverfahren muss angestossen werden; es ist aber nicht zu erwarten, dass die Bundesländer das Gesetz deshalb „scheitern“ lassen, weil sie es nicht mehr in der Bundesratssitzung unterbringen). Danach kann das Gesetz im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Es tritt dann drei Monate nach Verkündung in Kraft.
Das um drei Monate hinausgeschobene Inkrafttreten stellt sicher, dass sich alle Einrichtungen, die freiheitsentziehende Maßnahmen anwenden, auf die neue Rechtslage einstellen und die gesetzlichen Vertreter (Eltern/Vormund/Pfleger) auf die Notwendigkeit einer familiengerichtlichen Genehmigungspflicht hinweisen können.
Quelle: Fokus Pflegerecht. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines familiengerichtlichen Genehmigungsvorbehaltes für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Kindern (Drs. 18/11278)