12
(Steinacker 2007: 100). Davon zeugt auch die 1908 erlassene Satzung der
Münchner Waisenhäuser: „Morgens und abends sowie beim Gehen und
Kommen haben sie die anwesenden Vorgesetzten laut und ehrerbietig zu
grüßen. Beim Eintritte haben sich die Zöglinge von ihren Sitzen zu erhe-
ben und ruhig stehen zu bleiben. Dem Dienstpersonal gegenüber haben sie
anständig zu sein, jede Vertraulichkeit jedoch zu unterlassen“ (Mehringer
1982: 34).
Wir bleiben im Jahr 1919, blicken aber einige hundert Kilometer rhein-
aufwärts – Freiburg im Breisgau
Der Philosoph und Physiker Edmund Husserl (1859–1938) erhält in die-
sem Jahr einen Lehrstuhl in Freiburg. Husserl entwickelt dort einen
Begriff, den er vermutlich erstmals 1918 verwendet hat (Welter 1986: 79):
den der Lebenswelt. Dieser wird noch reichlich Karriere machen und das
Verständnis vom Alltag (auch in pädagogischen Zusammenhängen) stark
beeinflussen. In Auseinandersetzung mit den Schriften unter anderem von
George H. Mead (dessen Arbeiten in Deutschland in den frühen 1980er-
Jahren vor allem durch Hans Joas und Jürgen Habermas’Theorie des kom-
munikativen Handelns bekannt werden) gilt Edmund Husserl als Begrün-
der einer phänomenologischen Philosophie (Abels 2012). Damit ist eine
Denkweise gebahnt, die „auf die erkennende Subjektivität als Urstätte
aller objektiven Sinnbildungen und Seinsgeltungen zurückgeht und es
unternimmt, die seiende Welt als Sinn- und Geltungsgebilde zu verstehen“
(Husserl zit. n. Treibel 2006: 85). Die phänomenologische Philosophie
enthält den Grundgedanken, dass sich die Welt nicht in rationaler, objekti-
ver Erkenntnis zeigt, sondern in der geistigen Anschauung, das heißt, in
die Interpretation der Subjekte im Rahmen ihrer Interaktion, in Wechsel-
beziehung und in unmittelbarer Erfahrung zueinander.
Baumgarten bei Wien, noch immer das Jahr 1919
Der Psychoanalytiker und Pädagoge Siegfried Bernfeld (1892–1953)
gründet im August das jüdische Kinderheim Baumgarten. Auch Bernfeld
erkennt in der Mahlzeitensituation einen zentralen Bestandteil des dorti-
gen Alltags. Ein Alltag allerdings, der die Bethesda-Oberin viele hundert
Kilometer westlich vermutlich augenblicklich in Ohnmacht fallen lassen
würde. So schreibt Bernfeld: „Die Kinder machten vom ersten Tag an