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Kapitel 1
Zur Einführung: Ein Buch über den Alltag
in der Heimerziehung
Das erste Kapitel möchte eine inhaltliche Einführung in den Band ermög-
lichen und geht dazu in drei Schwerpunkten vor: Auf eher essayistische
Weise und entlang von historischen ‚Streiflichtern‘ soll zunächst ein Ein-
lesen in die Bedeutung des Alltags in der Heimerziehung angeregt wer-
den (Kap. 1.1). Die ausgewählten inhaltlichen Ausschnitte, subjektiven Be-
schreibungen und biografischen Selbstthematisierungen werden nicht
durch weitere Literatur kommentiert, kontextualisiert oder kritisch ange-
fragt, um den Einlese-Charakter zu erhalten. Kapitel 1.2 versteht sich
demgegenüber als klassische Einleitung, indem hier Idee, Ziele und Auf-
bau des Bandes vorgestellt werden. Die Vorstellung wird erweitert durch
einen Blick auf jenes thematische Untersuchungsfeld, das alsAlltagsthema
beispielhaft im Zentrum des Bandes steht: dem Essen und der Ernährung
(Kap. 1.3).
1.1 Spurensuche. Historische Streiflichter auf einen 100-jährigen
Alltag der Heimerziehung
1919 in Boppard am Rhein, kurz nach dem ersten Weltkrieg
In der evangelischen Fürsorgeanstalt Bethesda versammeln sich die Zög-
linge in einem großen Speisesaal. Über ihnen an der Wand hängt, für alle
gut sichtbar, die Hausordnung: „Die Zöglinge haben leise zu Tisch zu
kommen und stehend und schweigend das Tischgebet abzuwarten […].
Die Speisen dürfen nicht geschlürft werden, die Ellenbogen nicht auf-
gestützt, die Hände nicht unter dem Tisch versteckt, keine Speisen auf die
Tischplatte oder auf den Boden geworfen werden, keine Überbleibsel auf
dem Teller gelassen werden“ (zit. n. Steinacker 2007: 346). Zudem
herrscht ein Sprechverbot (ebd.). Solche und ähnliche Disziplinierungen,
dazu ein mitunter brutaler Strafenkatalog und die Ausbeutung kindlicher
Arbeitskraft prägen den Alltag der Jungen und Mädchen in vielen Für-
sorgeanstalten zu dieser Zeit (Steinacker 2007: Teil II, Blum-Geenen 1997).
Ihr Leben in den Fürsorgeheimen – nicht nur beim Essen, aber eben auch
dort – erinnert „nicht nur auf den ersten Blick mehr an den Alltag von Haft-
anstalten oder Klöstern, als an kindgerechte Erziehungseinrichtungen“