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gleichberechtigt nebeneinander hörbar gemacht. Insbesondere soll der Versuch unternom-
men werden, die Frage der indischen Mitbegründerin der postkolonialen Theorie Gayatri
Chakravorty Spivak, die sich mit den Artikulierungsmöglichkeiten von Marginalisierten ausei-
nandergesetzt hat -
Can the subaltern speak?
(Spivak 2008) - positiv zu beantworten. Die kri-
tischen Sozialwissenschaften sprechen von Subalternen, die keinen Zugang zum öffentlichen
Raum haben und die nicht angehört und somit weiter dominiert werden.
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Kommen die Subal-
ternen stärker zu Wort, entsteht ein anderes „Wahrheitsspiel“ (Foucault 2014) als Gegen-
macht zu den Expertenspielen. Foucault verwendet in seinem Buch „Die Regierung der Leben-
den“ den Begriff „Wahrheitsspiel“, um deutlich zu machen, dass sich die Ausübung von Macht
in der Regel durch Verweis auf behauptete Wahrheiten legitimiert. Die geschlossene Unter-
bringung als Form staatlicher Machtausübung und damit als „Regierung“ kann nur dann
durchgeführt werden, wenn sie „zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefähr-
dung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffent-
liche Hilfen, begegnet werden kann“ (BGB).
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Es reicht also nicht aus, dass eine Selbst- und
Fremdgefährdung vorliegt, sondern es muss zusätzlich der Nachweis erbracht werden, dass
andere Hilfen entweder nicht erfolgreich waren bzw. nicht angenommen wurden.
Im dargestellten Fall wird zu sehen sein, dass das Scheitern der angebotenen Hilfen der Familie
bzw. dem Jungen zugeschrieben wurde. Das alternative „Wahrheitsspiel“, das dann zum Erfolg
der Hilfe geführt hat, bestand darin, einerseits diagnostisch die Selbstdeutungen der Betroffe-
nen und nicht die Fremddeutungen der Professionellen in den Vordergrund zu stellen und
andererseits die fehlerhafte Hilfekonstruktion und das Scheitern der angebotenen Hilfen auf
die mangelnde Beteiligungsfähigkeit der Fachkräfte zurückzuführen (und eben nicht auf die
fehlende Kooperationsbereitschaft der Familie)
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. Die Anwendung der Sozialpädagogischen Di-
agnose und der Sozialpädagogischen Familiendiagnose hat hier insofern eine zentrale Rolle
gespielt, als beide Verfahren inhaltlich die Selbstdeutungen der Betroffenen und prozessual
den Dialog in den Vordergrund stellen.
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Ranajit Guha (Guha 1997) verweist darauf, wie wichtig es ist, auch die Geschichte der Marginalisierten –
der Subalternen – zu schreiben, um ein gerechteres Bild von Geschichte entwickeln zu können. Geschichte
zu schreiben ist immer eine Geste der Macht. In diesem Sinne will diese Studie die Geschichte bzw. die
Gegenwart der Subalternen beleuchten und jenen einen Ort der Artikulation verschaffen.
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§ 1631b BGB - Mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung: Eine Unterbringung des Kindes, die mit
Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist
zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder
Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffent-
liche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit
dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.
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„Beteiligung“ im sozialpädagogischen Verständnis ist das gleichberechtigte Aushandeln von angemessenen
Hilfen und damit das Gegenteil von „Compliance“ (Behandlungsbereitschaft) im psychiatrischen Kontext als
Unterordnung der Patientensicht unter die Expertensicht
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