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das Aufgabenfeld der sozialpädagogischen Diagnostik. Niemeyer hat in Aktualisierung des Erzie-

hungswissenschaftlers Nohl (1926) auf den Unterschied hingewiesen, der zwischen den Proble-

men, die Kinder machen und denen, die Kinder haben, besteht (Niemeyer 2015, S. 76ff.). Sinn-

volles Handeln ist demnach erst dann möglich, wenn die Probleme, die Kinder haben, diagnos-

tiziert, d.h. verstanden sind. Ansonsten bleibt nur das oberflächliche Kurieren der Symptome.

Die in diesem Einzelfall angewandten diagnostischen Verfahren waren die Sozialpädagogische

Diagnose (Uhlendorff 1997) und die Sozialpädagogische Familiendiagnose (Uhlendorff/

Cinkl/Mathaler 2006 und Cinkl/Krause 2011) als Formen der Betroffenenbeteiligung zur Eruie-

rung der konkreten Lebenswelt der Familie. Lebensweltorientierte dialogische Diagnostik ist

notwendige Voraussetzung einer Erziehung in Freiheit

1

und der erste Schritt zur Formulierung

von auf den Einzelfall zentrierten Alternativen zur geschlossenen Unterbringung. In diesem

Sinne versucht diese Einzelfallstudie Grundlagen für eine Erziehung in Freiheit zu entwickeln.

Das große Interesse an geschlossener Unterbringung hat mit der Tatsache zu tun, dass Fach-

kräfte von den Problemlagen von Kindern und Jugendlichen – den Problemen, die Kinder und

Jugendliche

machen

- so überwältigt werden, dass ihnen der Blick für die Probleme, die Kinder

und Jugendliche

haben

- nicht gelingt. Verfahren der sozialpädagogischen Diagnostik sind eine

Möglichkeit, sich von den eigenen Gefühlen zu dezentrieren und reflexartiges, dann eben oft

repressives Agieren, zu vermeiden. Die Alternative zur geschlossenen Unterbringung besteht

zunächst in einer sorgfältigen sozialpädagogischen Diagnostik als Voraussetzung einer be-

troffenenorientierten Hilfeplanung. Die Frage, ob sich dann in der Auswertung vieler Einzel-

fälle die Notwendigkeit alternativer Betreuungs- und Hilfeformen ergibt, kann nur eine nut-

zerorientierte Forschung beantworten. Diese könnte die Hypothese prüfen, dass methoden-

geleitete Betroffenenorientierung und konsequente Hilfeplanung ausreichen, um eskalie-

rende Hilfeverläufe zu vermeiden und erfolgreiche Hilfen zu konstruieren, ohne dass man

neue Betreuungs- und Hilfeformen benötigt oder gar auf Zwangsmittel zurückgreifen müsste.

Es ist immer wieder daran zu erinnern, dass der wichtigste Wirkfaktor in den Erziehungshilfen

die Beteiligung (insbesondere der Kinder und Jugendlichen) ist, wie etwa die Jugendhilfe-Ef-

fekte-Studie gezeigt hat (Schmidt et al. 2002). Daher stellt die vorliegende Einzelfallstudie die

Frage in den Vordergrund, welche Rolle die Beteiligung im Hilfeprozess gespielt hat. Dabei

kommen die Beteiligten direkt zu Wort: der fallzuständige ASD-Mitarbeiter, der Einzelfallhel-

fer und vor allem der Jugendliche und seine Mutter. Es geht hier also nicht um Multiperspek-

tivität, wie sie typisch ist für Darstellungen, in denen Menschen objektivierend zu „Fällen“ ge-

macht werden, sondern um „Polyphonie“ (Bachtin 1929): Die Stimmen der „Helden“ werden

1

So der Untertitel einer Streitschrift der

Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen

(IGFH 2013) ge-

gen geschlossene Unterbringung. In ihr kommen Fachleute zu Wort, aber keine Betroffenen. Es werden

gewichtige und überzeugende Argumente gegen geschlossene Unterbringung und Zwang vorgebracht, ein

Konzept für eine

Erziehung in Freiheit

aber wird nicht präsentiert.

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